Gastkommentar des Bundesvorsitzenden Prof. Dr. Otto Wulff in der Westfalenpost

25.05.2018
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Starre Altersgrenzen gehören in die Rumpelkammer

Gastkommentar in ungekürzter Fassung

Die Menschen in Deutschland werden immer älter. Ihre durchschnittliche Lebenserwartung ist bei neugeborenen Kindern auf mehr als 82 Jahre gestiegen. Nie zuvor wurden die Deutschen so alt und bleiben so lange jung, und die wenigsten von ihnen wollen noch so leben wie ihre Eltern. Früher gab es nach dem Beruf den Lebensabend, den man in Ruhe bis zu seinem Ende verbringen wollte. Heute fühlen sich Rentner und Pensionäre weiterhin leistungsfähig und wollen noch etwas bewirken und viel erleben. Was man einmal Lebensabend nannte, ist heute häufig eine neue Zeit des Aufbruchs.

Die Älteren spüren weiter ihre Kompetenz und wehren sich vehement gegen die krasse Aufteilung von Arbeitszeit und Ruhestand. Gegenwärtig ist mehr als ein Drittel der deutschen Bevölkerung älter als 60 Jahre, gehört also zu einem Personenkreis, der gemeinhin zur Generation der Rentner und Pensionäre gezählt wird. Und so die Fortschritte in der Medizin und eine bewusste gesundheitsfördernde Lebensweise anhalten, wird auch das Durchschnittsalter der Generation der Rentner und Pensionäre weiter ansteigen. Die in letzter Zeit erfreulich ansteigende Geburtenzahl wie auch die Zuwanderung werden daran vorerst wenig ändern.

Fakt bleibt, dass immer noch ein geringer werdender Teil der jüngeren Bevölkerung für einen weiter wachsenden Teil von Ruhegehaltsempfängern Renten und Pensionen zu zahlen hat. Diese Entwicklung zwingt dazu, sich Gedanken darüber zu machen, wie unser Land auf Dauer sein Wirtschaftswachstum erhalten und seine soziale Sicherheit garantieren will. Zu erreichen ist das wohl nur, wenn über neue Formen unserer Arbeitswelt nachgedacht wird und Möglichkeiten geschaffen werden, die ältere Generation länger als bisher im Arbeitsmarkt zu verankern. Wenn ältere Facharbeiter sich aus dem Beruf verabschieden, ohne dass Jüngere als Nachfolger zur Verfügung stehen, Ärzte auf dem platten Land sich aus Altersgründen zurückziehen und keine jüngeren Kollegen ihren Platz einnehmen, dann gerät die wirtschaftliche und soziale Stabilität eines Staates ins Wanken. Wenn Positionen in der Produktion, der Dienstleistung, Wissenschaft und Forschung, wie in der humanen Fürsorge vakant bleiben, muss alsbald eine Lösung dieses Problems gefunden werden.

Zu allererst ist mit einem Vorurteil aufzuräumen. In weiten Bereichen unserer Bevölkerung, unterstützt von der Hellseherfähigkeit unterschiedlicher Meinungsträger, wird ein Altersbild suggeriert, das ausschließlich im Zusammenhang mit Fürsorge und Pflege, Krankheit und Mühsal, Last und Sorgen verbunden ist, während die Prognostiker solcher Kunde sich bewusst in der Rolle eines Antiaging-Aktivisten outen, gleichsam die ewige Jugend am Gummiband hinter sich herziehen. Natürlich hat das Alter im Gegensatz zur Jugend eher mit Krankheit und Sorgen zu tun, das bestreitet doch niemand. Gottlob ist Alter aber nicht automatisch Ausdruck von Krankheit und Siechtum.

Unsere Gesellschaft steht vor der Aufgabe, ein verändertes, besser gesagt, ein differenzierteres Altersbild zu schaffen. Bislang spielt sich Alter in unserer Gesellschaft noch wesentlich in privaten Bereichen ab. Wenn wir hingegen mit einer alternden Gesellschaft Erfolg haben wollen, dann müssen wir, und da beißt die Maus keinen Faden ab, das Alter ohne Wenn und Aber verstärkt in den beruflichen Raum hinein verlegen und ihm zusätzlich in weit höherem Maße als bisher einen bedeutenderen politischen Platz zuweisen. Es reicht nicht, wenn Politik nur für Ältere gemacht wird, es reicht ebenso wenig, wenn Politik nur mit Älteren gemacht wird, entscheidend für eine zukünftige Gesellschaft wird sein, dass Politik auch mehr „von“ Älteren gemacht wird. Es besteht kein Zweifel, dass unsere Gesellschaft auf die Dauer ohne die Berufs- und Lebenserfahrung und ohne längere Tätigkeit der Älteren ihre wirtschaftliche und soziale Stellung nicht wird halten können. Starre Altersgrenzen gehören in die Rumpelkammer einer überkommenen und verstaubten Beschäftigungspolitik. Wer weiter arbeiten möchte, wer es sich zutraut, dem es sogar Freude bereitet, dem sollte man erlauben, es auch tun zu können. Jeder mag selbst entscheiden, wann er in Rente geht. Doch dazu gehört auch eine ein überzeugendes Angebot des Marktes im weitesten Sinne, das es älteren Arbeitnehmern erleichtert, ihre Arbeit fortzuführen, sei es in Teilzeitarbeit oder in anderen Formen. Wer hingegen ein langes Leben gearbeitet und seine Pflicht getan hat, dem muss es selbstverständlich freistehen, ab einem bestimmten Alter seine Lebensarbeitszeit abzuschließen. Unbestritten steht ein solches Recht auf sicheren Unterhalt auch jenen Menschen zu, die durch die Unbilden des Lebens daran gehindert wurden, einer Arbeit nachzugehen oder gezwungen wurden, sie vorzeitig aufgeben zu müssen. Solche Hilfe entspricht der menschlichen Pflicht zur Solidarität und einer Werteordnung, die auch, mit Verlaub, etwas mit der im 4. Gebot genannten Ehre und Würde zu tun hat.

Die Chancen auf sichere wirtschaftliche und soziale Stabilität unserer Gesellschaft und die damit verbundene Einlösung ihrer Verpflichtungen werden aber nur steigen, wenn sie bereit ist und sich dazu fähig macht, sich einem neuen Bildung-und Ausbildungsschema zuzuwenden. Die bisherige Starre eines Lebenslaufs, der sich durch die Phase des Lernens in der Jugend, die Phase der Berufstätigkeit in den mittleren Jahren und die auslaufende Phase in eine freie Zeit definierte, muss sich in Zukunft in eine andere und völlig neue Phase verändern. Bildung und Ausbildung werden zu einer einzigen praktisch das ganze Leben, zumindest ihrer größten Teile, begleitenden Aufgabe. Vermutlich laufen sie sogar auf eine lebenslange individuelle Pflicht zur Bildung und Weiterbildung hinaus. Wenn also längere Arbeitszeiten gefordert und als notwendig erachtet werden, dann müssen aber auch ältere Menschen, gleich welchen Alters, die uneingeschränkte Möglichkeit bekommen, jeden kulturellen und technischen Fortschritt für sich und ihre Angehörigen nutzen zu können.

Unsere Gesellschaft wird sich mit Blick auf das digitale Zeitalter revolutionär verändern. Das muss auch die ältere Generation begreifen. „Weiß ich nicht, kenne ich nicht, brauche ich nicht“ wird nicht mehr reichen, und aus der Zukunft ausklinken kann man sich auch nicht. Lebenslanges Lernen wird zu einer tragenden Säule unserer Gesellschaft werden müssen, wenn sie stark bleiben soll, vor allem unabhängig und frei.

In diesem Sinne brauchen wir einen neuen Generationenvertrag, auch als Folge der Demographie, der den Älteren die Angst vor Armut nimmt, und der den Jüngeren nicht wegen Überforderung die Zukunft verbaut.

Hinweise auf eine „Rentnerschwemme“ vor nicht allzu langer Zeit oder die „Ausplünderung der Jungen durch die Alten“ wie der Vorwurf der „Vergreisung“ sind Äußerungen, die man lieber unterlassen sollte. Es sind Provokationen, die die Zusammenarbeit der Generationen im Sinne innovativer Gemeinschaftsarbeit erheblich gefährden. Unsere Demokratie baut auf das Vertrauen der Generationen und nicht auf Verdächtigungen, die die Kluft zwischen Alten und Jungen vergrößert, anstatt sie zu überbrücken. Die Generationen müssen Gewissheit haben, dass die Demokratie nur Bestand haben kann, wenn sie sich nicht gegenseitig überfordern. Wir brauchen gemeinsames Tun und die Erkenntnis, dass, will die Gesellschaft nicht gegen die Wand fahren, die Jungen von den Alten und die Alten von den Jungen lernen. Das Gerede von einem „Krieg der Generationen“ ist ebenso töricht wie dumm.

Prof. Dr. Otto Wulff ist Bundesvorsitzender der Senioren-Union der CDU Deutschlands und Mitglied im Bundesvorstand der CDU Deutschlands.